Erdbeben in Marokko: „Es hat hier wirklich die ärmsten Teile der Bevölkerung getroffen“

Interview

Die Zahl der Toten steigt weiter, Rettungsarbeiten werden durch die Abgelegenheit der betroffenen Dörfer erschwert. Warum das nordafrikanische Land bisher nur wenig Unterstützung aus dem Ausland angenommen hat und wie man aus Deutschland am besten helfen kann – darüber spricht Böll-Büroleiterin Dr. Anja Hoffmann aus Rabat.

Zu sehen sind große Schuttberge, einzig ein Türrahmen steht noch. Weiter entfernt such Menschen in Trümmern eingefallener Häuser. Im Hintergrund sind die rotbraune, unbewaldete Berghänge zu sehen.

In der Nacht zu Samstag traf Marokko das schlimmste Erdbeben in dem nordafrikanischen Land seit Jahrzehnten. Wie stellt sich die Situation vor Ort dar?

Insgesamt ist die Situation weiter unübersichtlich. Niemand weiß, wie viele Menschen und Dörfer tatsächlich betroffen sind. Es sind nun (Stand 11.09. abends) beinahe 3.000 Tote zu beklagen, die Zahl der Verletzten ist beinahe genauso hoch, über die Vermissten gibt es keine öffentliche Kommunikation. Es zirkulieren Schätzungen, wonach zwischen 300.000 und 400.000 Menschen in hunderten Dörfern betroffen sind, andere sprechen sogar von tausenden betroffenen Siedlungen.

Die menschliche Katastrophe ist riesig – die Menschen haben Angehörige verloren, Kinder ihre Eltern und Eltern ihre Kinder, Lebensgrundlagen sind zerstört, die ohnehin fragile Infrastruktur liegt in Trümmern. Es wird noch Tage, vielleicht Wochen dauern, bis wir das tatsächliche Ausmaß des Unheils fassen können. Viele der betroffenen Duoars (marokkanisch für Ortschaften) waren bereits vor dem Erdbeben nur schwer zugänglich, diese Siedlungen sind aktuell nur mit Hubschaubern oder Eseln zu erreichen. Es hat hier wirklich die ärmsten Teile der Bevölkerung getroffen.

Und nun schließt sich auch das 72-Stunden-Zeitfenster, in dem noch Überlebende geborgen werden können.

Genau. Menschen, die noch lebend geborgen werden, sind von nun an leider vereinzelte Wunder. Entsprechend geht es jetzt darum, die Verwundeten möglichst gut zu versorgen. Die Menschen vor Ort stehen noch unter Schock, ihre Erstversorgung ist entscheidend. Die Wettervorhersage sagt, dass Regenfälle schon Ende der Woche möglich seien. In den Bergregionen des Atlas verwandeln sich diese rasch in Sturzfluten. Diese sind auch in normalen Zeiten tückisch. Jetzt, wo kein Stein mehr auf dem anderen steht, wären unkontrollierbare Wassermassen fatal. Sichere Unterkünfte für die Überlebenden sind daher jetzt besonders wichtig.

Bedauerlicherweise müssen wir auch im Auge behalten, dass die Temperaturen in der Erdbebenregion zu dieser Jahreszeit sehr hoch sind. Die Bergung der Leichen muss daher schnell gehen. Sonst drohen Seuchen. Bereits jetzt berichten unsere Partner*innen in den betroffenen Regionen, dass der Geruch von Verwesung in der Luft hängt und die Situation noch unerträglicher macht als sie angesichts des unermesslichen menschlichen Leids ohnehin ist.

Mehrere Staaten hatten Marokko ihre Unterstützung zugesagt, bisher hat die Regierung aber nur Hilfe aus vier Ländern angenommen.

Es kursieren Informationen, dass Marokko Hilfsangebote aus über 70 Ländern erhalten hat. Angefordert wurde zunächst Hilfe aus Spanien, Großbritannien, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Gemeinsam mit den marokkanischen Soldaten und Einsatztruppen leisten die ausländischen Hilfsteams jetzt vor Ort Hilfe, außerdem zahlreiche private beziehungsweise zivilgesellschaftliche Hilfsinitiativen, die zum großen Teil aus Marokko, teilweise aber auch ohne Einladung aus dem Ausland angereist sind.

In einer so komplexen Krisensituation erscheint nachvollziehbar, dass die marokkanischen Behörden nur ausgewählte ausländische Hilfsangebote angenommen haben, um Hilfe besser koordinieren zu können. So unterschiedlich wie die Staaten sind, auf deren Hilfsangebote Marokko zurückgreift, sehe ich hier auch keinen Anlass über ein möglicherweise dahinterstehendes außenpolitisches Kalkül zu spekulieren.

Aber die Bewertung das Krisenmanagements der marokkanischen Regierung steht noch aus und ich bin sicher, dass die betroffene Bevölkerung ihre Kanäle hierfür findet. Ich halte diese Diskussion zum jetzigen Zeitpunkt jedoch für verfrüht – die Rettung und Sicherung von Leben müssen im Vordergrund stehen, und Anteilnahme und Trauer ihren gebührenden Platz haben

Wie kann man aus Deutschland die betroffenen Menschen jetzt am besten unterstützen?

Die marokkanische Zivilgesellschaft hat in den letzten Stunden eine Humanität, Mobilisierungskapazität und Reaktionsgeschwindigkeit gezeigt, die ich nur bewundern kann. Die Solidarität ist gewaltig und allgegenwärtig; auf Supermarktparkplätzen sammeln Helfer*innen Nahrungsmittel, über den Kita-Chat organisieren Eltern Kinderkleidung und warme Decken und per Newsletter gingen in meinem E-Mail-Postfach im Minutentakt Informationen über Hilfsinitiativen und Beteiligungsmöglichkeiten ein. Überhaupt sind die Menschlichkeit, das Mitgefühl und die kollektive Trauer im Land überwältigend – dieser Zusammenhalt trägt die Marokkaner*innen durch die Krise. Aus Deutschland ist aktuell die beste Möglichkeit zu helfen, solche zivilgesellschaftliche Initiativen zu unterstützen.

Über die akute humanitäre Hilfe hinaus wird es bald relevant werden, Initiativen des Wiederaufbaus zu unterstützen. Ab November schneit es bereits häufig in den Regionen des Mittleren und Hohen Atlas. Die Unterstützung aus Deutschland muss über den Moment der Katastrophe hinausgehen. Die Überlebenden, und insbesondere Kinder und Frauen, brauchen auch auf lange Sicht Unterstützung, um sicher durch die nächsten Monate zu kommen und um ihre Lebensperspektiven wiederaufzubauen.
   
Zur Person: Dr. Anja Hoffmann ist seit August 2022 Büroleiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Rabat, Marokko.

Das Interview führten Laura Endt und Anna Schwarz.